Projekte

 

 

 

Unschärfe. Versuch über die Linie

Wie kommt die Linie in die Welt?

Denken beginnt in dem Augenblick, wenn Unschärfe nicht mehr ertragen werden kann. Denken als ein Bedenken von Unterschieden, das Grenzen zieht, bildet Differenzen, sobald die erste Linie gezogen wird. Sie ist die Voraussetzung der Differenz und ermöglicht das Unterscheiden von Getrenntem. Wie kommt die Linie in die Welt? Ist sie eine Erfindung, die das Denken der Unbestimmtheit und Ordnungslosigkeit der Natur oktroyiert? Oder ist sie bereits ein Element der Anschauung selbst? Konstruieren wir die Linie, um sie im Bild der Wirklichkeit zu sehen? Verhält es sich mit dem Sehen von Bildern analog zu Kant Theorie der Erkenntnis, in der die herrische Maxime gilt: "Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten..." (KdrV)...

Wie das Entstehen der Linie aus der materiellen Kultur der Frühzeit zu denken sei und zu geordneten Zusammenhängen von Zeichen erweitert wurde, fragt erst die Theorie des 20. Jahrhunderts. Weitgehende Übereinstimmung besteht in den Theorien über das Entstehen von Bildern darüber, dass die Anfänge in einem Übergang von verschwommenen Andeutungen zu konturierten Wahrnehmungen liegen müssen. Ein klarer und bestimmter Übergang hat sich bisher nicht entdecken lassen. Die Motive, aus denen entstand, was wir Bild nennen, sind schwer zu erklären, und ebenso schwer ist es zu rekonstruieren, wie dieser Prozess abgelaufen sein mag. Ein konstruierender Blick, Worringer sprach vom aktiven, erkennenden Schauen, musste entstehen, um Ähnlichkeiten wahrzunehmen und sie zu wiedererkennbaren Identitäten zu verdichten. Alle Theorien über den Anfang der Bildproduktion versuchen, den Übergang vom Unscharfen zur scharfen Umrisslinie, die ein Wiedererkennen möglich macht, zu erklären...

 

Projekt "Unschärfe"

Unschärfe in Bildern führt aus Eindeutigkeit und Bestimmtheit in das Vage und in die Vieldeutigkeit, die vom Blick gedeutet werden. Ohne dass die Phantasie des Betrachters sich in das unscharfe Bild einmischte, ist es nichts als ein Bild, dem die Schärfe fehlt. Die Chance der Unschärfe liegt in der Beteiligung des Subjekts an der Bildproduktion. In einer solchen Subjektivierung durch Unschärfe könnte die Zukunft der Bilder liegen.

Der Begriff Schärfe und seine Opposition Unschärfe gehören nicht ins Lexikon des Moderne-Diskurses. Er wird durch eine andere Art der Begrifflichkeit strukturiert. Dennoch möchte ich die These vertreten, dass sie für die Moderne, ihren Begriff von Wirklichkeit und ihre künstlerischen Praktiken, konstitutiv waren. Die Geschichte der Idee der Schärfe lässt sich aus einer langen Text- und Bildgeschichte rekonstruieren, aber das Begriffspaar Schärfe und Unschärfe taucht erst spät und in einem ganz anderen und nicht-philosophischen Zusammenhang auf, dem der Fotografie. Der Sprung von der Philosophie in die Geschichte des Visuellen und insbesondere der Fototheorie scheint mir kein Zufall zu sein. Ich will versuchen, die Bedeutung der Idee aus der Einbettung in eine lange Vorgeschichte zu klären und ihre Transformation in den Schärfe-Unschärfe-Diskurs beschreiben, wobei sich die Gewichtung in der Relation zu Gunsten des Negativbegriffs verschiebt.

Schärfe wird selten als eine eigene Qualität gedacht. Sie wird bemerkt, und zwar als die Eigenschaft von etwas bemerkt, sobald sie fehlt oder gefährdet ist. Es handelt sich, wie der Sprachgebrauch zeigt, nicht um ein beschreibendes Wort für Eigenschaften von Dingen, auch Bildern, und Tätigkeiten wie sehen, hören, denken. Schärfe wirkt vielmehr als eine allgemeine Maxime und zieht sich als ein stiller aber zentraler Imperativ durch die Moderne. Ich will versuchen, sie aus der Verborgenheit des Selbstverständlichen herauszuheben und als kulturell bedingt sowie aus ihrem Verhältnis zur Unschärfe zu beschreiben. Die fundierende Stellung der Schärfe-Unschärfe-Relation für das Wirklichkeitsverhältnis und das Eigenbild der Moderne soll beschrieben und eine Logik der Unschärfe entwickelt werden.


>> Warum die Zukunft sich nach Unschärfe drängt. Über Ernst Vollands unscharfe Bilder

 

Räume des Kleinen

Ernst Bloch, Philosoph des Vernacular

Ernst Bloch war der Philosoph des Vernacularen. Einer der ersten, die das Kleine, Partikulare, Abseitige und Heimliche der philosophischen Reflexion für wert befanden. In Opposition zur philosophischen Tradition seit Plato erhebt sein Denken das Einfache und Konktrete in den Himmel des philosophischen Denkens. Das Vernacular stand im Zentrum seines Versuchs, philosophische Theorie mit einer Welt jenseits des Diskurses zu verknüpfen, einer Welt der Erfahrung, des Handelns, für die die kulturelle Praxis des Bauens, repräsentiert durch Architektur, das Modell abgab. Mit Vernacular benennt er nicht einen blossen physikalischen Ort, sondern einen Bewusstseinszustand. Es korrespondiert mit einer räumlichen Bestimmung das Daseins. Er verwandelt das Lokale und Greifbare, blosse Banalitäten, irritierende Widersätzlichkeiten gleichermassen für die Transzendentalphilosophie wie für die analytische Philosophie, in wesentliche Objekte der philosophischen Reflexion.

Gibt es Kleinstadt?

Kleinstadt ist eine unscharfe Bezeichnung. Sie bezieht sich sowohl auf reale Orte als auch auf einen imaginierten Raum, auf einen Ort zum Leben und auf einen vorgestellten oder ausgedachten, mentalen Raum. Eine geschichtliche Rekonstruktion erfordert eine genaue Abgrenzung, die die beiden Dimensionen auseinander hält, damit Kleinstadt als Begriff in Beschreibung oder Analyse anderes als Verwirrung in Disziplinen wie Stadtsoziologie, Architekturgeschichte oder Theorie der Ökonomie erzielt. Im Verständnis der Kleinstadt als Objekt einer historischen Rekonstruktion liegt jedoch nur ein Spezialfall vor. Vom Geist der Kleinstadt kann ein fester Begriff nichts sichtbar machen, denn ihre Grenzen sind unbestimmt. Die Kleinstadt als Objekt und die Kleinstadt als Vorstellung sind nicht auf eindeutige Weise miteinander verknüpft und sollten nicht aneinander gemessen werden. In beiden wirkt ein Netz aus Werten und Normen, die nicht unbedingt übereinstimmen. Das Wort kann nur bedingt als Begriff benutzt werden, da es die Bedingungen der Begrifflichkeit nicht erfüllt.

In der Kleinstadt hat das Vernacular lange Zeit überlebt. Nun gilt es, andere Räume des Vernacular zu entdecken und seine Kraft zurückzugewinnen. Seine Wiederentdeckung in der Architektur könnte zu einem Anstoss werden, das Denken über bauen und wohnen als Herausforderung aufzunehmen.